Änderungsantrag zur Vorlage: Konzept Erinnerungskultur der Stadt Leipzig

Änderungsantrag zur Beschlussfassung in der Ratsversammlung am 18. Oktober 2023

Die Ratsversammlung beschließt das Konzept „Erinnerungskultur der Stadt Leipzig“ mit folgenden Änderungen.

 

  1. Auf Seite 4 werden im Kapitel „Theoretische Grundlagen und Debatten zum Begriff der Erinnerungskultur“ der vierte und fünfte Absatz wie folgt geändert:

 

Die öffentliche Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur bezog sich in der bundesrepublikanischen Debatte zunächst ausschließlich auf die nationalsozialistischen Verbrechen. Die strafrechtliche Aufarbeitung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde lange Zeit durch zahlreiche juristische Auseinandersetzungen blockiert. Dem Juristen und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gelang es, gegen massiven Widerstand die Frankfurter Ausschwitzprozesse von 1963 bis 1965 durchzusetzen. Der Tod von Fritz Bauer am 1. Juli 1968 hatte schwerwiegende Konsequenzen für die Erinnerungskultur der BRD. Beispielsweise fand der von Bauer bis zu seinem Tod angestrebte Prozess gegen die Schreibtischtäter der Euthanasie in der alten Bundesrepublik nicht statt.

Die Rede von Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 war ein Schlüsselereignis in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Teil der Staatsräson. Es folgten die Debatten um das Holocaust-Mahnmal 1988 bis 2005, um die Wehrmachtsausstellungen 1995 bis 1999 oder die Walser-Bubis-Debatte 1998. Auch das parallel entstehende Forschungsfeld setzte sich in Deutschland lange vor allem mit der Erinnerung an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auseinander. Autor/- innen wie Aleida Assmann, Christoph Cornelißen, Astrid Erll, Kerstin von Lingen, Volkhard Knigge, Reinhart Koselleck und andere diskutieren die Potenziale und Gefahren von Erinnerungskultur.

 

In der DDR fand die Erinnerung an den Nationalsozialismus häufig im Rahmen eines staatlich gesteuerten „Antifaschismus“ statt, der die DDR als einen Staat von Widerstandskämpfer/- innen stilisierte und wenig Spielraum für eigensinnige Formen der Erinnerungskultur ließ. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR lässt sich nicht auf einen sogenannten staatlich gesteuerten oder gar verordneten „Antifaschismus“ reduzieren. Es gab bei den Bürger/-innen der DDR über den „verordneten“ hinaus auch einen wahrhaftigen Antifaschismus.

Im Sinne des Marxismus-Leninismus war ein sozialistisches Geschichts- und Klassenbewusstsein zentraler Bestandteil für den gesellschaftlichen Fortschritt. Dieser Zugriff auf Geschichte, der sich dem Antifaschismus verpflichtet sah, prägte auch die Leipziger Geschichtslandschaft. Ein Beispiel sind die zahlreichen noch heute sichtbaren Straßennamen und Denkmäler, die einzelne „Helden“ und „Märtyrer“ Persönlichkeiten des Widerstands gegen die Nationalsozialisten oder der Arbeiterbewegung würdigen. Weitere Merkmale der Gedenkkultur in der DDR waren stark ritualisierte Gedenktage und der Schwerpunkt auf der autoritären antifaschistischen Erziehung der Jugend. Eine graduelle Öffnung der Erinnerungskultur setzte in den 1980er Jahren ein.

 

 

  1. Auf Seite 11 im Kapitel „Ausbau etablierter Schwerpunktthemen und bestehender Beteiligungsformate“ wird der erste Absatz unter „Demokratiegeschichte und soziale Bewegungen (epochenübergreifend)“ wie folgt ergänzt:

 

An Personen, Orte und Ereignisse der lokalen Demokratiegeschichte zu erinnern, ist zentrale Herausforderung zeitgemäßer Erinnerungskultur. Der für das Werden der Stadt offenkundig sehr bedeutsame Beitrag der sozialen und demokratischen Bewegungen wurde lange nur punktuell erfasst. Ereignisse wie die Revolution 1848/49, die Entstehung politischer Assoziationsformen und der Arbeiter/-innen-Bewegung, die weibliche Emanzipation mit Beginn der ersten Frauenbewegung in Deutschland, die Entstehung der Genossenschaftsbewegung und der Schreberbewegung bis hin zu Opposition und Widerstand gegen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts den Nationalsozialismus und der Friedlichen Revolution bzw. dem gelungenen friedlichen Systemumbruch der DDR 1989 – Leipzig wurde über zwei Jahrhunderte hinweg von dieser Geschichte in besonderer Weise geprägt und stellt mit der Vielzahl an bedeutenden Ereignissen im bundesdeutschen und europäischen Vergleich einen einmaligen Ort des Ringens um eine freiheitlich-demokratische Grundordnung dar.

 

 

  1. Auf Seite 14 im Kapitel „Ausbau etablierter Schwerpunktthemen und bestehender Beteiligungsformate“ wird der erste Absatz unter „Migrations- und Fluchtgeschichte(n) (epochenübergreifend)“ wie folgt ergänzt

 

Um ein diverses Zielpublikum zu erreichen und Leipzig als wachsende Metropole und weltoffene Messestadt gerecht zu werden, müssen Migrationsgeschichte(n) generell und insbesondere seit dem Ende des 2. Weltkriegs im Kanon der Schwerpunktthemen der Leipziger Erinnerungskultur verankert werden. Mögliche Themen in diesem Schwerpunkt umfassen u. a. die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter/-innen in der DDR; Migration nach 1990 und in den 2000er Jahren sowie die Auseinandersetzung mit ausländerfeindlicher Gewalt im Zuge der Wiedervereinigung und in den folgenden Transformationsjahren – bis heute. In diesem Kontext fordert ein Stadtratsbeschluss ein würdiges Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig. Die zentralen Akteur/-innen des Bündnisses „Rassismus tötet!“ und der „Initiativkreis Antirassismus“ fordern außerdem, diese Thematik in die Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums einzubinden und den Jahrestag des Mords an Kamal K. in den Gedenkkalender des Referats Protokoll der Stadt Leipzig aufzunehmen.

Jedoch ist der Bereich der Migrationsgeschichte keineswegs auf die Zeit nach 1989 beschränkt, sondern bietet sich als viel weiter zurückreichendes Querschnittsthema im Kontext der Handelswege und Messestadt Leipzig insbesondere an, wenn es um die Einbindung bisher wenig repräsentierter Zielgruppen geht. Beispielhaft sei die Erinnerung an das Griechenhaus (Katharinenstraße) und damit den christlich-orthodoxen Kulturraum genannt. Entlang der Via regia und Via imperii haben sich viele Kulturen bewegt und Spuren hinterlassen. Ziel muss es sein, aktiv die Perspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte einzuholen und spezifische Formate mit und für diese Zielgruppe weiterzuentwickeln und bekannter zu machen. Eine große Rolle spielen neben dem Partnerstadtquartier und dem Europahaus hierbei die Migrantenorganisationen. Ein wichtiger Kooperationspartner für das Thema ist das Referat für Migration und Integration der Stadt Leipzig.

 

 

  1. Auf Seite 18 im Kapitel „Neue Schwerpunkte für die Erinnerungskultur der Stadt Leipzig: Nationalsozialismus, Kolonialismus sowie Transformationsgeschichte seit 1989“ wird unter „Nationalsozialismus“ der zweite Absatz nach den Spiegelstrichen wie folgt geändert:

 

Auch wenn das städtische Gedenken an den Nationalsozialismus in Form von protokollarischen Veranstaltungen sowie Kulturprojekten umfangreich ist, stellt die Mehrzahl der Leipzigerinnen und Leipziger für diese Epoche aber keinen Bezug zur Stadt her (vgl. Kommunale Bürgerumfrage 2021 in Kapitel 3). Möglicherweise erstarrt das Erinnern an diese Zeit zu stark in ritualisierten Formen, so dass dieses in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung zu verlieren droht. Jedoch erwarten vor allem jüngere Generationen von einer kritischen Erinnerungskultur eine erweiterte Aufarbeitung des NS, während bei älteren Generation möglicherweise ein „Abwehrreflex“ gegenüber einer verordneten „antifaschistischen Gedenkkultur in der DDR“ beobachtbar ist.

 

 

  1. Auf Seite 20 im Kapitel „Neue Schwerpunkte für die Erinnerungskultur der Stadt Leipzig: Nationalsozialismus, Kolonialismus sowie Transformationsgeschichte seit 1989“ wird unter „Transformationsgeschichte seit 1989“ der erste Absatz wie folgt ergänzt:

 

Die Erinnerung an die Transformationszeit und die Entwicklung Leipzigs seit 1989 ist ein zentraler Wunsch, der aus der vorab erwähnten Bürger/-innen-Umfrage hervorgeht. In diesem Themenkomplex wird die Frage gestellt, wie Leipzig mit den tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen nach 1989 umgegangen ist. Abwandernde Industrien, das Agieren der Treuhand, hohe Arbeitslosigkeit, ein Exodus der Bevölkerung, politische Verwerfungen und (rassistische) Gewalt auf der einen Seite, auf der anderen ein Abenteuerfeld und Freiraum für die Entfaltung von Jugend- und Subkulturen – diese Extreme gilt es für Leipzig zu erzählen. Einen nicht unwesentlichen Punkt im Transformationsgeschehen seit 1989 stellt der Auftritt rechtsextremistischer Parteien, die sich in den Altbundesländern konstituiert und entwickelt haben (DVU, Republikaner, NPD/Die Heimat), und der Auftritt rechtsradikal gesinnter Personen / politischer Rädelsführer dar, die aus den alten Bundesländern kommend in den sogenannten neuen Bundesländern ihre politische Karriere organisierten. Wenn man die historischen Interessen eher jüngerer Generationen ernst nimmt, gehören zur Transformationsgeschichte seit 1989 auch Themen wie Umwelt und Ökologie, für die die Stadt Leipzig ebenfalls ein von Extremen geprägtes Beispiel (gewesen) ist.

 

Begründung:

Nach über 30 Jahren deutscher Einheit sollte uns ein differenzierter Blick auf die Geschichte der DDR gelingen. Bislang war die Auseinandersetzung mit der DDR vordergründig geprägt von der Warte: Im Falschen gibt es nur Falsches (Unrechtsstaat, Stasi-/SED-Diktatur etc.).

 

Es geht heute vor allem darum, deutlich zu machen, dass die rechtsradikalen Verwerfungen in den sogenannten neuen Bundesländern nicht linear/monokausal aus der DDR-Geschichte herzuleiten sind. Es sollte in diesem Zusammenhang auch nicht übergangen werden, dass die „alte“ Bundesrepublik einiges an eklatanten Defiziten und auffälligen Versäumnisse in Hinblick auf Erinnerungskultur angehäuft hat; und dieser Umstand ist bezüglich der Darstellung des politischen Transformationsprozesses ebenfalls umfassend in den Blick zu nehmen.

Aus den benannten Gründen schlagen wir Ergänzungen und Umformulierungen vor.

 

Zu 1:

Der Satz: "Die öffentliche Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur bezog sich in der bundesrepublikanischen Debatte zunächst ausschließlich auf die nationalsozialistischen Verbrechen" kann nicht so blank stehenbleiben; die DDR-Erinnerungskultur wird bewertet, auch eine Wertung der Bundesdeutschen Erinnerungskultur sollte sich in dem Papier finden lassen.

 

Zu 2:

Formulierungen, die eine Parallele zwischen Nazi-Regime und DDR suggerieren, kommen einer Relativierung der Nazi-Verbrechen nah. Formulierungen, die so tun, als unterschieden sich die Nazi-Diktatur und die DDR nur durch unterschiedliche Vorzeichen, gehen fehl.

 

Zu 3.

Entlang der Via regia und Via imperii haben sich viele Kulturen bewegt und Spuren hinterlassen. Dem wollen wir nachspüren.

 

Zu 4:

Ist der „verordnete Antifaschismus der DDR“ verantwortlich für einen vermeintlichen „Abwehrreflex“ gegenüber dem Thema Faschismus?

 

Zu 5:

Die Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts und die Ausweitung rechtradikaler Taten in den sogenannten neuen Bundesländern lässt sich nicht allein als Auswuchs der DDR-Geschichte darstellen bzw. erklären. Ostdeutschland ist nicht allein aufgrund seiner DDR-Vergangenheit zu einem Dunkeldeutschland geworden. Spätestens seit dem Wiedervereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten muss die deutsche Geschichte als eine gemeinsame Geschichte erzählt werden. Eine Geschichtsdarstellung nach dem Motto: "Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen" verbietet sich.

 

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