Antrag: Leipzig nimmt historische Verantwortung wahr – AG Straßennamen soll durch Historiker ergänzt werden

Antrag vom 21. Februar 2020

Beschlussvorschlag:

Leipzig nimmt seine historische Verantwortung wahr und bewertet die Namen von Straßen- und Platznamen auch unter Gesichtspunkten von Einstellungsmustern der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und der kolonialen Vergangenheit. Dazu wird der Oberbürgermeister beauftragt, im Einvernehmen mit der AG Straßenbenennung eine wissenschaftliche Kommission einzurichten, die die derzeitigen Straßen- und Platznamen historisch bewertet. Die AG Straßenbenennung wird für ihre laufende Arbeit durch eine*n Historiker*in erweitert. Weiterhin ist sicherzustellen, dass die Anwohner*innen bei Straßenumbenennungen in geeigneter Form miteinzubeziehen sind. Der Oberbürgermeister soll bis Ende 2020 ein Konzept zur Umsetzung dieser Vorschläge vorlegen.

Begründung:

Die Umbenennung der Arndtstraße in Leipzig hat für Diskussionen gesorgt. Ernst-Moritz Arndt ist dabei nicht die einzige Persönlichkeit, der in Leipzig mit einem Straßennamen gedacht wird, in deren Geschichte und Wirken Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit deutlich werden. Zur historischen Verantwortung gehört auch ein differenzierter Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Aufarbeitung.

Mit diesem Antrag soll die AG Straßennamen erweitert und die Wissenschaft stärker mit einbezogen werden. Im Rahmen einer zeitweilig arbeitenden wissenschaftlichen Kommission sollen die derzeitigen Namen von Straßen und Plätzen in Leipzig historisch bewertet werden. Das Ergebnis soll als Grundlage für die weitere Arbeit der AG Straßenbenennung, die Entscheidungen des Stadtrats sowie Anwohnerbeteiligungen dienen. Gerade vor dem Hintergrund einer historischen Verantwortung sollte Leipzig unter Einbeziehung der Bürger vorangehen und die Diskussion um Straßenumbenennungen offensiv führen.

 

Verwaltungsstandpunkt vom14. April 2020

Alternativvorschlag:

  1. Die AG Straßennamen wird um eine weitere Person mit historischer und insbesondere stadtgeschichtlicher Expertise erweitert.
  2. Die AG Straßennamen prüft auf Vorschlag des Rates bzw. der Fraktionen kontroverse Straßennamen, unterzieht diese einer kritischen Würdigung und berichtet regelmäßig über das Ergebnis. Die kritische Würdigung erfolgt anhand von Orientierungskriterien, die im Vorfeld auf wissenschaftlicher Grundlage festgelegt werden.

Begründung

Arbeitsauftrag und Arbeitsaufwand

Im Antrag VII-A-00958 wird vorgeschlagen, eine wissenschaftliche Kommission einzurichten, die Straßen- und Platznamen historisch in Leipzig bewertet. Ferner soll die AG Straßenbenennung um eine Historikerin bzw. einen Historiker erweitert werden. Die Anwohnerbeteiligung bei Umbenennungen soll sichergestellt und dem Rat bis Ende 2020 ein Konzept vorgelegt werden.

Unklar bleibt hierbei, nach welchen Kriterien Straßen und Plätze gewählt werden sollen, für die eine Bewertung erforderlich ist. In der derzeitigen offenen Formulierung müssten bei Beschlussfassung des Antrages aktuell 3.040 Straßen- und Platznamen einer Bewertung unterzogen werden. Dies ist auch mit umfangreichem Personaleinsatz kaum realisierbar.

Zwischen 1997 und 1999 hatte eine vom Stadtrat beauftragte Arbeitsgruppe über zweieinhalb Jahre die Umbenennung von 335 Straßen und Plätzen, die zwischen 1945 und 1989 nach Personen benannt worden waren, geprüft. Letztendlich wurden elf Straßen umbenannt (vgl. Ratsbeschlüsse 690/96, 1673/99 und RB 373/00).

Hintergrund: Funktion von Straßennamen

Straßennamen gewährleisten im Zusammenhang mit der Hausnummerierung die räumliche Strukturierung einer Stadt und erfüllen somit eine Ordnungs- und Orientierungsfunktion für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen und für die städtische Verwaltung. Straßennamen sind in ihrer Gesamtheit und Benennungsgeschichte darüber hinaus ein Ausdruck des öffentlichen Stadtgedächtnisses. Die Ratsversammlung nimmt insoweit mit jedem Beschluss zur Benennung und auch Umbenennung einer Straße historische Verantwortung wahr. Die Umbenennungen von Straßen, die nach Personen benannt sind, sollten daher nur erwogen werden, wenn wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Handlungen der betroffenen Person vorgelegt werden, die einer öffentlichen Würdigung zweifelsfrei entgegenstehen. Wenn Ansichten und Wertevorstellungen aus der Zeit der Benennung von heutigen Ansichten und Wertevorstellungen in Teilen abweichen, d. h. nicht mehr zeitgemäß sind, sollte eine Umbenennung hingegen sorgfältig abgewogen werden.

Daneben dienen Straßennamen auch der Identifikation der Anwohnerinnen und Anwohner. Ein Eingriff in dieses Gefüge führt zu teils deutlichem Widerspruch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Dies ist aktuell beim Beschluss zur Umbenennung der Arndtstraße zu beobachten. Zwischenzeitlich sind rund 180 Widersprüche gegen die Umbenennung in der Stadtverwaltung eingegangen und es wurde eine Petition mit mehreren Tausend Unterschriften eingereicht. Es ist davon auszugehen, dass Maßnahmen, die weitreichende Umbenennungen nach sich ziehen, auf erheblichen Widerspruch in der Bevölkerung stoßen, weshalb Straßen nur im äußersten Ausnahmefall umbenannt werden sollten.

Auch in anderen Städten ist eine kritische Auseinandersetzung mit Straßenumbenennungen zu beobachten. Ende 2019/Anfang 2020 wurde medial über eine entsprechende Gesamtprüfung des Straßennamenbestandes (ca. 6.300 Straßennamen) der Stadt München berichtet. Als Zwischenergebnis lagen für ca. 10 % aller Straßennamen Gründe vor, eine vertiefende Prüfung vorzunehmen, wobei die Vorprüfung bereits einen Zeitraum von drei Jahren in Anspruch genommen hatte.

Beteiligung von Anwohnerinnen und Anwohnern

Alle Vorlagen und Anträge zu Straßenbenennungen werden seit jeher im jeweils örtlich zuständigen Stadtbezirksbeirat bzw. Ortschaftsrat vorberaten. Die Sitzungen der Stadtbezirksbeiräte und Ortschaftsräte sind öffentlich (mit Frage- und Rederecht für Einwohnerinnen und Einwohner). Insoweit war und ist die Beteiligung der Öffentlichkeit im Rahmen der Gestaltungsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie bereits grundsätzlich gegeben. Eine weitergehende Beteiligung kann durch Einbeziehung von Bürgervereinen oder lokalen Multiplikatoren und Betroffenen (z. B. Stellungnahme zu Vorschlägen) erfolgen, wobei den Stadtbezirksbeiräten bzw. Ortschaftsräten eine vermittelnde Funktion zukommen kann.

Alternativvorschlag

Der im Antrag formulierte Vorschlag, die AG Straßenbenennung um eine/n Historiker/-in zu erweitern, ist bereits erfüllt, da die in der AG mitwirkende Vertreterin des Stadtarchivs ausgebildete Historikerin ist. Möglich und auch erstrebenswert ist eine Bereicherung der AG Straßenbenennung mit weiterer stadtgeschichtlicher und historischer Expertise aus der Stadtverwaltung oder auch durch externe Fachleute. Als Geschäft der laufenden Verwaltung obliegt die Benennung dem Oberbürgermeister.

Straßennamen, die sich im Zuge einer historisch-kritischen Bewertung unter Beachtung der vorstehenden Erläuterungen als bedenklich erweisen, sollten vorzugsweise mit einer Erläuterungstafel versehen werden, deren Text gegebenenfalls auch aus heutiger Sicht nicht mehr adäquate Ansichten aufgreift und Leserinnen und Leser zur nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem Wirken des Namenspatrons sowie zur eigenen Meinungsbildung anregt. Eine Umbenennung von Straßennamen mit Ratsbeschluss ist davon selbstverständlich unbenommen.

 

Änderungsantrag von Stadtrat Sander vom 17. Juni 2020

Beschlussvorschlag:

Der Antrag (Neufassung) wird wie folgt geändert beschlossen (fett):

Leipzig nimmt seine historische Verantwortung wahr und bewertet die Namen von Straßen- und Platznamen auch unter  Gesichtspunkten von Einstellungsmustern der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und der kolonialen Vergangenheit.

Dazu wird die AG Straßennamen um eine weitere Person mit historischer und stadtgeschichtlichere Expertise erweitert.

Zudem wird eine die AG Straßennamen und den Stadtrat beratende, wissenschaftliche Kommission gebildet.

  • Die Kommission soll nicht übergreifend bzw. grundsätzlich alle Leipziger Straßennamen evaluieren, sondern nur mit Auftrag des Stadtrates oder der AG Straßennamen auf Namensüberprüfung tätig werden. Dazu wird über die Einbeziehung der AG Straßennamen eine Entscheidungsvorbereitung für den Stadtrat erarbeitet. Dabei ist weiterhin sicherzustellen, dass die Anwohner*innen bei Straßenumbenennungen in geeigneter Form (z.B. über die Stadtbezirksbeiräte und Ortschaftsräte) miteinbezogen werden.
  • Die AG Straßennamen kann sich bei Straßenbenennungen und der Erarbeitung von Erläuterungstafeln der Expertise der wissenschaftlichen Kommission bedienen. Die Entscheidung über den Wortlaut auf diesen Tafeln obliegt weiterhin der Verwaltung, die der Straßenbenennungen dem Stadtrat.
  • Als Mitglieder in der wissenschaftlichen Kommission werden sachkundige Bürger aus der Leipziger Stadtgesellschaft berufen.


Begründung:
Die Leipziger Stadtgesellschaft, also die Bürger dieser Stadt und die Stadtratsfraktionen, sollen von vornherein in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden und also aufrufen, welche Namensgebungen überprüft werden sollen. Die Kommission ordnet die infragestehende historische Persönlichkeit in ihrem jeweiligen historischen Kontext ein; klärt inwieweit bestimmte inkriminierte Passage oder Werkteile das gesamte Oeuvre charakterisieren oder eher als am Rande stehend eingeschätzt werden
können.

Unserer Stadt stehen ausgewiesene Mitarbeiter zur Seite, so z.B. in den städtischen Museen, vorzügliche Mitarbeiter in den städtischen Bibliotheken, Archiven, an der Universität – und nicht zuletzt interessierte, kenntnisreiche Bürger. – Das ist ein Potenzial, dass wir nutzen sollten.

Mit der AG Straßennamen steht dem Stadtrat ein bewährtes vorberatendes Gremium zur Verfügung, welchem auch weiterhin die Entscheidungsvorbereitung für den Stadtrat obliegen soll. Die wissenschaftliche Kommission soll demnach keine Parallelstruktur sein, sondern in besonderen und strittigen Fällen als Expertengremium die Arbeit der AG Straßennamen in der Erarbeitung der Entscheidungsvorschläge für den Stadtrat unterstützen.

Beschluss der Ratsversammlung am 17. Juni 2020

Der Antrag wurde in der von der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen übernommenen Alternativvariante von Stadtrat Bert Sander beschlossen.

 

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