Rede von Anna Kaleri vom 24. Januar 2024 zum Änderungsantrag "Aufstellungsort für Stein zum Gedenken an die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation infolge des Zweiten Weltkriegs zur Verfügung stellen"

Foto: Martin Jehnichen

- es gilt das gesprochene Wort -

In unserer Geschichte gibt es einige neuralgische Punkte, die nicht ausreichend aufgearbeitet sind. Darunter vor allem die Erfahrungen von Umbrüchen, die nicht nur geschichtliche Markierungen setzen, sondern das Leben von individuellen Menschen betreffen. Dazu zählen Flucht und Vertreibung rings um den Zweiten Weltkriegs. Mehrere Millionen Menschen mussten sich auf die Flucht begeben und erfuhren unsägliches Leid. Ich erinnere mich an die hochbetagte Dame, die mit sechzehn für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich war, die sie bis heute „ihre Kinder“ nennt. Wie sie zu Fuß mehrere hundert Kilometer unterwegs war, Angst, Tod, Kälte, Hunger und Abweisung erfahren hat. Wie Menschen von ihren eigenen Landsleuten beschimpft und ausgegrenzt wurden. Das Sachbuch „Kalte Heimat“ erzählt davon. Wie aber gerade auch diese Neuhinzukommenden das Land mit aufgebaut haben. Viele Menschen haben Angehörige, die solche Erfahrungen gemacht haben, in manchen Familien sind die Erzählungen darüber präsent, im kollektiven Gedächtnis aber noch zu wenig. Unsere Fraktion begrüßt daher den Vorschlag der Verwaltung, das Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten und eine angemessene Form der Erinnerung zu schaffen.

Dass das Thema gerade jetzt kommt, birgt Risiken und Chancen und benötigt einen genauen und differenzierten Blick, auch was Opferschaft und Täterschaft betrifft. Unter den Vertriebenen / Geflüchteten warenauch Menschen, die die Naziideologie mitgetragen haben, die in diesen Krieg führte. Es braucht auch einen genaueren Blick auf die Personengruppen, die in Leipzig eintrafen. Wir können dem VSP zustimmen, wenn das Wort deutschstämmig gestrichen wird, um diese Verengung aufzulösen.

Und auch die zeitliche Verengung möchte ich ansprechen. In den Augen von Wissenschaftler*innen gilt das gesamte 20. Jahrhundert als das Jahrhundert von Flucht und Vertreibung, und das Leiden hört im 21. nicht auf. Fluchtgeschichten von heute ähneln erschreckend denen von damals. Auch heute noch erleben Menschen, die eine Flucht antreten müssen, menschenunwürdige Zustände bis hin zu Todesgefahr. Und wenn sie endlich in Frieden und Freiheit angekommen sind, denn dafür steht unser Land, drohen rechtsextreme Deportationsgedanken. Wenn unser Ziel ist, dass Menschen nie wieder unsagbares Leid erfahren, dann heißt das nie wieder Faschismus.

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