Rede von Bert Sander am 15. November 2023 zum Änderungsantrag zur Vorlage „Konzept Erinnerungskultur der Stadt Leipzig"

- es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, sehr geehrter Rat, sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger
Zunächst möchte ich mich dafür bedanken, dass die hier aufgerufene Vorlage in die heutige Ratsversammlung verschoben wurde, um mir so die Möglichkeit einzuräumen, unseren ÄA einzubringen, und ich muss mich zugleich dafür entschuldigen, dass dieser Akt zu doch recht aufgeregten Diskussionen im Rat geführt hat. Aber gut …
Zur Vorlage:
Zuallererst, es ist uns wichtig hervorzuheben, dass die Stadt Leipzig die Bedeutung der Erinnerungskultur erkannt und durch die Erarbeitung eines Konzepts Erinnerungskultur auch entsprechendes Verwaltungshandeln folgen lässt. Es kann und darf gesagt werden, die Stadt Leipzig ist in Bezug auf Erinnerungskultur vielen deutschen Städten voraus.
Nichtsdestoweniger, meinen wir, mit dem vorliegenden Änderungsantrag auf schwächere Passagen hinweisen zu müssen. Und, unsere Einwürfe sind nicht redaktioneller Art, sondern betreffen, wie wir meinen, grundsätzlich bestimmte Prämissen des Konzepts.
Zum Punkt 1: Es mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, dass hier eine bestimmte Person, nämlich Fritz Bauer, aufgerufen wird. Es geht hier aber nicht etwa darum, irgendein Wissen hervorzukramen. Der Name Fritz Bauer steht maßgebend für die Entwicklung Bundesdeutscher Erinnerungskultur, denn es war dieser mutige Jurist und damalige Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, der weitgehend alleinstehend bundesdeutsche Erinnerungskultur tatsächlich vorangebracht hat (Stichworte: Ausschwitzprozesse, Eichmann-Prozess, Euthanasie-Prozesse etc.).
Nächster Punkt: In mehreren Passagen des Vorlagentextes ist in Hinblick auf die ostdeutsche Erinnerungskultur kritisch vom sogenannten „staatlich verordneten Antifaschismus“ die Rede.
Wir meinen, dass diese Einlassungen jedoch nicht kritisch genug sind bzw. zu einseitig ausfallen, um dem Begriff „staatlich verordneter Antifaschismus“ auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man in einen Vergleich mit der Erinnerungspolitik der westdeutschen Länder geht. Denn es muss darauf verwiesen werden, dass es in den sogenannten Alten Bundesländern natürlich auch einen „staatlich verordneten Antifaschismus“ gab. Ob er konsequent bzw. hinreichend war, wäre eine lohnende Frage. Eins aber lässt sich deutlich sagen, der westdeutsche „staatlich verordneten Antifaschismus“ trat leider nur verzögert, vereinzelt und meist verspätet auf.
Wenige Beispiele:
Anfang Januar 1959 legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf für die Neufassung des wichtigen § 130 Strafgesetzbuch vor. Sie reagierte damit auf eine Serie antisemitischer Straftaten, darunter Brandanschläge auf Synagogen. So etwa kam es Weihnachten 1959 zur Schändung der Synagoge in Köln, die Bundeskanzler Konrad Adenauer erst kurz zuvor mit der jüdischen Gemeinde eingeweiht hatte; es folgten danach sogar sage und schreibe 700 Anschlussstraftaten bis Ende Januar 1960.
Erst im Januar 1960 wurde im Bundestag eine von der SPD beantragte große Justizdebatte zu den Themen „Aufstachelung zum Rassenhass“ und „Angriff auf die „Menschenwürde anderer“ geführt. (Stichwort: „Judenstern“-Gesetz)
Weiter: Man muss sich mal vor Augen führen: Erst im April 1994 entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht ausdrücklich, dass das Leugnen des Holocausts für sich genommen nicht unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit fällt.
Und der bereits erwähnte § 130 Strafgesetzbuch stellt erst in seinen Ergänzungen von 1994, Abs. 3, das Verwenden des Hitlergrußes wegen Volksverhetzung explizit unter Strafe.
Im Kapitel 5. unseres Konzepts Erinnerungskultur, [überschrieben mit dem Titel] „Neue Schwerpunkte für die Erinnerungskultur der Stadt Leipzig: Nationalsozialismus, Kolonialismus sowie Transformationsgeschichte seit 1989“, aber muss der „staatlich verordnete Antifaschismus der DDR“ sogar dafür herhalten, dass heute [Zitat] „bei der älteren Generation ein ‚Abwehrreflex‘ gegenüber einer verordneten ‚antifaschistischen Gedenkkultur‘ zu beobachten“ ist.
Mit Verlaub: Dieser „staatlich verordnete Antifaschismus“ führte in Ostdeutschland immerhin auch dazu, dass die DDR-Volkskammer noch auf ihre letzten Tage hin, also noch 1989, zum Beispiel die rechtsradikale Partei Die Republikaner um den Bayern Franz Schönhuber verbot, die auch in Leipzig lautstark beispielsweise mit der üblen Forderung nach Gleichbehandlung von Opfern der DDR und Opfern des Nationalsozialismus auftrat. Die DDR-Volkskammer erteilte Schönhuber ein Einreiseverbot und ließ sämtliches Werbematerial der Republikaner beschlagnahmen. Übrigens auf dem zentralen Werbeplakat der Republikaner prangte 1990 der Wahlslogan „Deutschland zuerst!“.
Entschuldigen Sie bitte, aber ich lass mich abschließend mal zu der These hinreißen, dass es in den sogenannten Alten Bundesländern vielleicht eher zu wenig „staatlich verordneten Antifaschismus“ gab.
Und die Kritik der DDR-Erinnerungspolitik sollte nicht vom Versagen Bundesrepublikanischer Erinnerungskultur ablenken.
Fazit: Erinnerungskultur heute muss die deutsche Geschichte nach 1945, also DDR- und BRD-Geschichte als im Zusammenhang stehend in den Blick nehmen. Und zwar, um zu einem gerechten Maß, so etwa in der Kritik des erwähnten sogenannten „staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR“, zu finden.
Denn die immer nur schnellen, einfachen, verkürzten Antworten und Erklärungen haben doch immer nur kurze bzw. krumme Beine.
Nach über 30 Jahren Deutscher Einheit sollte uns ein differenzierter Blick auf die Geschichte der DDR gelingen. Bislang war die Auseinandersetzung mit der DDR vordergründig geprägt von der Warte: Im Falschen gibt es nur Falsches (Unrechtsstaat, Stasi-/SED-Diktatur etc.).
Es geht heute vor allem darum, deutlich zu machen, dass die rechtsradikalen Verwerfungen in den sogenannten neuen Bundesländern nicht linear/monokausal aus der DDR-Geschichte herzuleiten sind. Es sollte in diesem Zusammenhang auch nicht übergangen werden, dass die „alte“ Bundesrepublik einiges an eklatanten Defiziten und auffälligen Versäumnissen in Hinblick auf Erinnerungskultur angehäuft hat; und dieser Umstand ist bezüglich der Darstellung des politischen Transformationsprozesses ebenfalls umfassend in den Blick zu nehmen.