Rede von Bert Sander in der Ratsversammlung am 17. Juni 2020 um Antrag " Leipzig nimmt historische Verantwortung wahr - Benennung von Straßen kritisch begleiten"

- es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Bürghermeisterinnen und Bürgermeister,
liebe Kollegen Stadträte und Stadträtinnen,
liebe Gäste,

Zunächst:
Das Thema Erinnerungskultur steht spätestens nach der Ermordung von George Floyd weltweit in der Debatte. Sicher, Leipzig ist nicht Minneapolis, ist nicht das britische Bristol – was aber nicht bedeutet, dass wir in selbstgerechter Weise so tun sollten, als gebe es bei uns in Hinblick auf die Themen Rassismus, Kolonialerbe und Antisemitismus nichts aufzuarbeiten.

Weiter:
Ich werde im Folgenden in Hinblick auf das Thema Straßenbenennungen auf mögliche Verfahrensweisen eingehen –, ich betone, es geht mir jetzt nicht darum, über die eine oder andere historische Person zu urteilen.

Aktuell liegt dem Petitionsausschuss der Bürgerantrag: „Umbenennung der Jahnallee“ vor.
Der entsprechende „Verwaltungsstandpunkt“ lehnt die Umbenennung ab; er beruft sich auf einen Ratsbeschluss von 1999. Hier findet sich die folgende finale Aussage:
[Zitat] „Die Beratung über die Namen im Zeitraum von 1945 bis 1989 nach Personen benannten Straßen ist abgeschlossen. Die Wiederaufnahme im Einzelfall bedarf neuer Erkenntnisse“. [Zitat Ende]
Neue Erkenntnisse? Aber was ist mit „neue Erkenntnisse“ gemeint? Stellt man sich vor, dass etwa ein bislang unbekanntes und entweder ent- oder gar belastendes Dokument aufgefunden wird, das die tradierte Bewertungen zu Fall bringt?
Nein, ich sage es mal etwas lapidar, nein, so läuft das nicht. Es geht, so man von „neuen Erkenntnisse“ spricht, eigentlich um etwas anderes.

Um zu erhellen, worauf ich an dieser Stelle hinauswill, soll auf eine kurze Passage Leipziger Stadtgeschichte verwiesen werden:

Anfang der 1990er Jahre wurden in Leipzig sowohl der Karl-Marx-Platz als auch die Karl-Marx-Universität unbenannt.

Woraus begründeten sich diese Umbenennungen? Am wissenschaftlichen Werk dieses Mannes kann es nicht gelegen haben.
Etwaige „neue Erkenntnisse“ spielten in der Debatte Anfang der 1990er Jahre überhaupt keine Rolle.

Nein, an der historischen Person Marx hat es nicht gelegen, – nein, man wollte nach 1989 ein deutliches Zeichen gegen den Staat DDR setzen. Kurz, es war ein politischer Akt, der sich allein aus den politischen Zeitumständen in Deutschland Anfang der 1990er Jahre erklärt. Der Fall Marx zeigt, wie abhängig die Bewertung einer historischen Person von den Zeitumständen ist, in denen der jeweils Bewertende verwickelt ist.

Aber zurück ins Heute und Jetzt:
„Neue Erkenntnisse“, etwa zu Ernst Ludwig Jahn oder Ernst Moritz Arndt, liegen nicht vor, was aber vorliegt bzw. was hinzugekommen ist, dass sind „neue, gegenwärtige Perspektiven“.  Um unsere gegenwärtige Perspektive zu bestimmen, müssen wir über die letzten 20 Jahre sprechen, die heute ein anderes Licht als eben 1999 auf die infrage stehende Thematik werfen.
Ich mag jetzt nicht den ganzen unseligen rassistischen Scheiß aufzuzählen, der sich seit 1999 in Deutschland breit macht. Die Büchse der Pandora jedenfalls steht sperrangelweit offen.

Allerdings lässt sich durch einen Verweis auf die heutigen Perspektive nunmehr nicht jede Position rechtfertigen.
Die politische Entscheidung, will sie nicht beliebig oder willkürlich ausfallen, will sie gerecht verfahren sowohl mit der infrage stehenden historischen Person als auch mit den politischen Belangen unserer Zeit, muss sich auf Sachkenntnis stützen.

Die Frage ist nur, kann das alles ein Stadtrat oder eine AG Straßennamen leisten? Der Stadtrat und die AG sind keine wissenschaftlichen Kommissionen.  Will sagen, der Leipziger Stadtrat ist nicht das Weltengericht bzw. die Stadträte sind nicht die Scharfrichter der Geschichte.

Daher plädieren ich für die Einberufung einer beratenden, wissenschaftlichen Kommission, die sich der Frage widmet, wie die unter Verdacht stehende Äußerung einer historischen Person einzuordnen ist, also, ist sie nur Ressentiment oder gar tragende Säule des Werks?

Diese Kommission wird nicht so verfahren, wie der einschlägige LVZ-Artikel von Andreas Tappert, der propagiert, egal, wohin man schaut: von Goethe oder Arndt über Hegel oder Marx bis Schopenhauer und Nietzsche – die haben doch alle Dreck am Stecken, also lasst die Geschichte besser ruhen. Nein, man kann Unterschiede festmachen –, so man denn will.

Auch sollte die Kommission Vorschläge bezüglich des Textes, der auf eventuelle Erläuterungstafeln gesetzt werden soll, unterbreiten. Die Entscheidung über den Erläuterungstext obliegt weiterhin der Stadtverwaltung.

Wir schlagen vor, dass die Leipziger Stadtgesellschaft von vornherein in die Entscheidungsprozesse einbezogen wird – und also aufrufen soll, welche Namensgebungen überprüft werden müssen. Kurz, die von uns intendierte Kommission soll nach Auftrag tätig werden.

Zur Zusammenstellung der Kommission: Unserer Stadt stehen ausgewiesene Mitarbeiter zur Seite, so z.B. in den städtischen Museen, den Bibliotheken, Archiven, an der Universität – und nicht zuletzt interessierte, kenntnisreiche Bürger. – Das ist ein in Potenzial, dass wir nutzen sollten.

Letzter Satz:
Diese Kommission ist keine von der Sorte „Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann gründe einen Arbeitskreis“, denn der Stadtrat wird seiner politischen Verantwortung bzw. den Zwängen einer politischen Entscheidung nicht enthoben.

 

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