Rede von Chantal Schneiß am 19. März 2025 zum Antrag "Verzicht auf Strafantrag durch die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) bei sogenannter 'Erschleichung von Beförderungsleistungen'"

- es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Oberbürgermeister, sehr geehrte Beigeordnete, liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, liebe Zuschauer*innen auf der Tribüne und im Stream,
Deutschlandweit kommen jedes Jahr etwa 7.000 Menschen wegen Schwarzfahrens in Haft. Das sind 7.000 Schicksale, die oft aus purer Not entstehen.
Lassen Sie mich vier zentrale Punkte anbringen:
Erstens: es trifft die Falschen. Die Menschen, die tatsächlich wegen Fahren ohne Fahrschein im Gefängnis landen, sind nicht "Trickser" oder "Schmarotzer", sondern die Mittellosen. Wohnungslose, Arbeitslose, Menschen mit Suchterkrankungen. Menschen, die ohnehin in der absoluten Not sind. Die Praxis führt also dazu, dass wir jene bestrafen, die am wenigsten haben und am meisten geschützt werden sollten. Die aktuelle Praxis ist eine Bestrafung von Armut!
Zweitens: Die aktuelle Praxis ist ein Paradebeispiel für unsinnige Bürokratie. Wir reden hier über eine Verwaltungsmaschinerie, die vollkommen überlastet ist. Staatsanwaltschaften und Gerichte werden mit Fällen überschwemmt. Am 11. März 2025 konnte man im Spiegel lesen, dass es fast eine Million offene Fälle bei den Staatsanwaltschaften gibt. Im Jahr 2024 stieg die Zahl der offenen Verfahren um 30 % gegenüber 2021. Und was ist die Konsequenz? Laut Richterbund wurden mehr als 60 dringend Tatverdächtige wegen Überlastung aus der Untersuchungshaft entlassen! Die meisten Fälle davon waren übrigens in Sachsen. Und währenddessen verschwenden wir Ressourcen auf Menschen, die kein Ticket haben? Das ist doch der komplette Wahnsinn.
Drittens: Es ist wirtschaftlich absolut unvernünftig. Eine Ersatzfreiheitsstrafe kostet in Sachsen 136 Euro pro Tag. Bei einer durchschnittlichen Haftdauer von 30 Tagen pro Fall entstehen Kosten von 4.050 Euro – pro Person! Wenn man das hochrechnet, ist das wahnsinnig viel Geld. Wer glaubt, dass sich das in irgendeiner Weise rentiert, ignoriert die Realität.
Viertens: Andere Städte machen es vor. Bremen, Dresden, Halle und Köln verzichten bereits auf Strafanzeigen. Und warum? Weil es keinen Sinn ergibt! Hans-Jürgen Jahnke, Prokurist der Verkehrsgesellschaft Bremerhaven AG, bringt es auf den Punkt: "Der Aufwand, den wir allein betreiben müssen, um Adressen herauszufinden, steht in keinem Verhältnis zum finanziellen Nutzen." Leipzig hat jetzt die Chance, es ebenso pragmatisch zu handhaben.
In den letzten Wochen wurde in verschiedenen Artikeln über unseren Antrag berichtet. Dabei wurde teils der Eindruck erweckt, wir würden denken, wir könnten den Oberbürgermeister dazu veranlassen, einfach das Gesetz zu ändern. Das ist natürlich nicht der Fall. Uns ist sehr wohl bewusst, dass der OBM nicht einfach Gesetze ändern kann. Wäre es so einfach, hätte ich Herrn Jung wohl schon längst einen "Weg mit Paragraf 218 StGB" Antrag auf den Tisch gelegt! Trotzdem ist der ÄA der SPD sinnvoll, er ist eine gute Ergänzung und wir übernehmen diesen.
Aber unabhängig davon ob sich auf Bundesebene etwas ändert, können wir hier vor Ort trotzdem etwas verändern!
Fakt ist: Die Leipziger Verkehrsbetriebe haben die Freiheit zu entscheiden, wann und bei wem sie Strafanzeige stellen. Und sie haben ebenso die Freiheit, darauf zu verzichten. Wir fordern sie auf, diese Freiheit zu nutzen – im Sinne der Menschlichkeit, der Vernunft und des Bürokratieabbaus!
Wir fordern daher die Leipziger Verkehrsbetriebe auf: Hören Sie auf, Menschen wegen Schwarzfahrens anzuzeigen.
Das ist keine Frage der Moral allein, sondern der reinen Vernunft. Es entlastet unsere Gerichte, spart Steuergelder und befreit unsere Verwaltung von unnötiger Bürokratie. Statt wertvolle Ressourcen für unsinnige Strafverfahren zu vergeuden, sollten wir sie für echte Herausforderungen nutzen – für eine bessere Verkehrsinfrastruktur, für soziale Projekte, für Menschlichkeit, für eine gerechtere Stadt, die niemanden zurücklässt.
Leipzig hat die Chance, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Treffen wir eine kluge, pragmatische Entscheidung – für eine gerechtere und menschlichere Stadt!