Rede von Marsha Richarz am 18. Dezember 2025 zum gemeinsamen Antrag "Menschen mit Behinderung in reguläre Arbeitsverhältnisse übernehmen"

Foto: Martin Jehnichen

- es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Kolleg*innen der demokratischen Parteien,
sehr geehrter Oberbürgermeister und Bürgermeister*innen,
sehr geehrte Presse und sehr geehrte Gäste auf dem Rang,

Ich möchte zu Beginn meine ehemalige Inklusionsschülerin mit Down Syndrom zu Wort kommen lassen. Sie ist 18 Jahre alt, hat gerade zwei Praktika hinter sich, bei Rewe und in der Kantine im Schwimmbad. Denn ein wichtiger Grundsatz der Inklusion ist: Nicht über, sondern mit uns. Leider haben sie meistens nicht wie ich das Privileg hier zu euch zu sprechen.  

- eingespielte Sprachnachricht - Sie sagt: „Ich will nicht Werkstatt gehen. Ich nicht Werkstatt, aber ich muss Geld verdienen.“

Eigentlich ist damit im Grunde genommen alles gesagt. Diese Schülerin hatte auch Praktikumszeiten in der Werkstatt. Monotone Arbeiten, die ihr weder Freude bereiten noch Geld bringen und sie mit der Zeit abstumpfen lassen würden. Die Werkstatt ist für sie der Ort, an dem sie als letztes landen will. Deswegen fordern wir heute mit unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD Fraktion tatsächliche Alternativen für Menschen mit Behinderung.

Denn: Die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist nicht nur ein Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention – sie ist ein zentrales Merkmal einer solidarischen Gesellschaft, die niemanden zurücklässt! Unser Antrag will nicht nur Barrieren abbauen, sondern echte Perspektiven schaffen.

Die Zahlen, die uns vorliegen, sind ernüchternd: Weniger als ein Prozent der Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, finden den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt. In Sachsen sind es jährlich gerade einmal 15 Personen. Das zeigt deutlich: Es reicht nicht, bestehende Strukturen zu verwalten – wir müssen sie hinterfragen und weiterentwickeln.

Dieser Antrag setzt an mehreren Stellen an, um nachhaltige Verbesserungen zu erzielen:

Als größter Arbeitgeber in Leipzig hat die Stadt eine Vorbildfunktion. Die systematische Prüfung und Schaffung von Inklusionsabteilungen bzw. Inklusionsbetrieben ist ein bedeutsamer Schritt, um Inklusion zu ermöglichen. Die Aussage im Verwaltungsstandpunkt, dass für einige Werkstattbeschäftigte das erzielte Einkommen zudem nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist fadenscheinig: Bei 1,46 € Stundenlohn in der Werkstatt kann nicht von einem Einkommen gesprochen werden, geschweige denn von einer Anerkennung der geleisteten Arbeit. Menschen mit Behinderung bewegen sich auch mit den anderen staatlichen Zahlungen unter der Armutsgrenze. Große Firmen lassen ihre Produkte in Werkstätten zusammenstellen, so werden zum Beispiel Kinderfahrräder der Firma Puky oder Teile von Porsche nachweislich in Werkstätten zusammengebaut. Fakt ist also, dass Werkstätten von Unternehmen genutzt werden, die an Ausgaben sparen wollen. Leider sparen sie dabei auch an ihrer Menschlichkeit.

Werkstätten müssen mehr sein als ein Auffangbecken für billige Arbeitskräfte. Sie sollten zu Sprungbrettern werden – mit Außenarbeitsplätzen als Brücke in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen.

Viele hochqualifizierte Mitarbeitende, die es auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen könnten, werden in der Werkstatt behalten, obwohl es Auftrag der Werkstätten ist, sie auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln – denn auch die Werkstätten müssen mittlerweile wirtschaftlich agieren, und da ist eine fleißige Arbeitskraft für durchschnittlich 222 € im Monat eben sehr praktisch, nicht wahr? Das darf kein Normalzustand sein.

Vielen Beschäftigten in der Werkstatt ist überhaupt nicht bewusst, welche anderen beruflichen Möglichkeiten sie außerhalb der Werkstätten noch haben – weil es ihnen meistens vorenthalten wird. Deswegen fordern wir im Antrag zum einen, dass das Gespräch mit qualifizierten Arbeitskräften gesucht wird, und zum anderen, dass der Arbeitskreis Schule Wirtschaft mit Akteuren wie der Koordinierungsstelle Berufs- und Studienorientierung und dem Arbeitskreis Förderschulen des Kreiselternrates zusammen Formate diskutiert und Ideen dafür erarbeitet.

Denn Schüler*innen mit Behinderung verdienen in ihrer Berufsorientierung in der Werkstufe und den dabei stattfindenden Praktika nicht nur die Option „Werkstatt 1, 2 oder 3 – Letzte Chance, vorbei“, sondern echte Jobalternativen, die auf ihre individuellen Stärken eingehen.

Die Stadt Leipzig steht in der Verantwortung, das zu tun, was von Werkstätten gesetzlich gefordert wird, aber zu selten gelingt: Menschen mit Behinderung den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Mit der richtigen Unterstützung – sei es durch das Budget für Arbeit, Assistenzangebote oder individuelle Begleitung – können wir Menschen befähigen, ihre Stärken einzubringen und ein gerechtes Einkommen zu erzielen.

Liebe Kolleg*innen, lassen Sie uns heute gemeinsam ein Signal setzen. Ein Signal für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt. Ein Signal für eine Stadt, die nicht nur Inklusion fordert, sondern lebt. Und ein Signal für Menschen mit Behinderung, dass sie ein wichtiger Teil unseres Arbeitsmarktes und unserer Stadtgesellschaft sind.

Unterstützen Sie diesen Antrag, denn es geht um mehr als Zahlen und Strukturen. Es geht um Menschen, die für einen gerechten Lohn arbeiten und ein selbstbestimmtes Leben führen wollen.

Vielen Dank.

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