Rede von Petra Cagalj Sejdi zur Bildungspolitischen Stunde in der Ratsversammlung am 20. September 2017

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Wottgen,
sehr geehrter Herr Schmidt,
sehr geehrte Dezernten,
Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Stadtrat

Migration – Bildung – Integrationsbeitrag,

ein wichtiges und bedeutendes Thema und das nicht erst seit den letzten zwei Jahren.
Ich bin sehr froh, dass wir uns dieser bedeutenden Sachen heute widmen.
„Integration ist eine Querschnittsaufgabe“ heißt es im Gesamtkonzept zur Integration der Stadt Leipzig und in den Bildungspoltischen Leitlinien von 2012 haben wir festgehalten: „Unterschiede erkennen und Vielfalt stärken!“ Bildung und Integration also ein breites gemeinsames Erkennen, Stärken, Fördern?!

Umso erstaunter war ich, als ich feststellen musste, dass auf der Liste unter den heutigen Rednern kein einziger Mensch mit Migrationshintergrund stand, niemand, der die andere Perspektive auf die Situation darstellen kann, niemand, der Integration aus der Praxis der „Zu-Integrierenden“ kennt.

Mein erster Gedanke dazu: Die Vorbereitungen zur heutigen Bildungspolitischen Stunde spiegeln das allgemein Problem wieder, dass wir hier in Leipzig mit dem Thema „Integration“ haben: Wir diskutieren und handeln weitestgehend einseitig. Ich möchte unseren beiden Gastrednern damit heute keinesfalls ihre Kompetenz absprechen, ich denke nur, dass uns ein Blick aus der anderen Perspektive in der heutigen Debatte sicher gut getan hätte.
Im Nachhinein wurde aber doch immerhin ein Vertreter des Migrantenbeirats auf eigene Anfrage des Beirats hin, zu einem 3-Minütigen Redebeitrag eingeladen – man befindet sich in der Verwaltung also vielleicht bereits doch schon einen kleinen Schritt weit in eine neue Richtung?

Die Themen Bereiche Bildung und Integration sind groß und breit und man könnte lange und ewig darüber diskutieren. Wir konzentrieren uns heute besonders auf die Bildungsmöglichkeiten Neuzugewanderter zwischen 16 und 27 Jahren.
Wie schwierig es für diese jungen Menschen ist, in unserem Bildungssystem anzukommen und den gewünschten Weg einzuschlagen, kann ich aus eigener Erfahrung berichten, daher möchte ich Ihnen gerne einmal einen Einblick in die Realität und Praxis geben:

Ich betreue und unterrichte seit eineinhalb Jahren Schülerinnen und Schüler in den sogenannten VKA-Klassen. Für alle denen dieser Begriff nicht geläufig ist:
VKA-Klassen sind Vorbereitungsklassen mit beruflicher Ausrichtung. Alle Jugendlichen zwischen 16 und 18, die aus dem Ausland nach Sachsen kommen und vorher im Ausland keine deutsche Schule besucht haben, werden werden völlig ungeachtet ihrer Fähigkeiten, Voraussetzungen und beruflichen Pläne einer VKA-Klasse zugewiesen. Sie lernen in den Klassen in erster Linie Deutsch und erhalten fachpraktischen Unterricht in niedrigschwelligen Berufen. Wer nach Beendigung der VKA noch nicht volljährig ist, besucht ein Berufsvorbereitendes Jahr und macht dort einen Hauptschulabschluss, es sei denn er kann in der Zwischenzeit Zeugnisse beibringen und sich einen höheren Schulabschluss anerkennen lassen.

Was auf den ersten Blick als gute Möglichkeit erscheint ausländische Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zeigt sich bei genauem hinsehen aber als starres und unzufriedenstellendes Konstrukt an:
In einer Klasse sitzen somit Jugendliche, die in ihrem Heimatland ein Gymnasium besucht haben und kurz vor dem Abitur standen, Jugendliche, die noch nie eine Schule besucht haben, Jugendliche, die noch nicht einmal Ihren Namen schreiben können, Jugendliche, die bereits einen Beruf erlernt haben, Jugendliche, die gar kein Deutsche sprechen, Jugendliche, die fließend Deutsch Sprechen, Jugendliche die fünf Fremdsprachen sprechen und Schreiben, Jugendliche, die noch nicht einmal wissen was der Unterschied zwischen einem Wort und einem Satz ist und alle sollen gemeinsam an Berufe wie z.B. Kosmetikerin, Pflegehelfer oder Metallbauer,… herangeführt werden.
Diese buntgemischten Gruppen werden meist von einem einzigen Lehrer oder einer einzigen Lehrerin unterrichtet, der oftmals selbst als Seiteneinsteiger neu im Beruf ist (und kaum Unterstützung erhält), und sind nicht selten mit 25 bis 27 Personen gefüllt. Das hier die Frustration auf allen Seiten schnell groß ist und dass man von Integration und Bildung mit modernen Methoden gar nicht erst sprechen braucht, ist ihnen sicher klar.

Hinzu kommt, dass die meisten Jugendlichen ein sehr hohes Ansehen vom Deutschen Bildungssystem und deutschen Schulen haben und oftmals mehr als schockiert sind, wenn sie dann nach der VKA in einem regulären Berufsvorbereitungsjahr landen. Bei vielen führt dies oft zur absoluten Resignation auch auf Seiten der Eltern. Ich kenne Eltern, die z.B. aus dem EU-Ausland zum Arbeiten nach Deutschland kommen und die genau aus diesem Grund, ihre Kinder wieder zurückschicken oder versuchen das Geld aufzubringen um sie beispielsweise in die International School zu schicken, wo sie – zwar in Englisch – einem gewöhnlichen gymnasialen- oder Oberschulunterricht folgen können.

Hier liegt der Fehler eindeutig bei der Bildungsagentur. Neu ankommende Schülerinnen und Schüler werden zwar zu einer sogenannten Bildungsberatung eingeladen, hier werden jedoch nur die Basisdaten aufgenommen, über das System der DaZ- und VKA-Klassen informiert. Vorangehende Bildung soll zwar nachgewiesen werden spielt aber bei der Zuteilung in Schulen, Klassen oder Bildungszweig keinerlei Rolle.

Lieber Herr Oberbürgermeister, sie haben bereits einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, indem sie sich im Freistaat für eine Schulpflicht bis Mitte zwanzig stark gemacht haben aber das ist nicht alles, wir brauchen ein System, dass die Bildungspotentiale der jungen Menschen nutzt, stärkt und ausbaut und nicht zerstört. Die Bildungsvergangenheit der neu Zugewanderten muss eine stärkere Rolle spielen. Menschen müssen darauf aufbauen können. Zeugnisse und Berufsabschlüsse müssen schneller anerkannt werden. Bei der Anerkennung müssen auch Kopien oder eingescante Zeugnisse zugelassen werden, damit Menschen, die bereits gut vorgebildet sind auf ihrem Niveau möglichst bald weiterlernen können und nicht in Hauptschulabschlüsse und niedrigschwellige Berufe gepresst werden. Machen Sie sich auch dafür stark, Herr Jung.

Herr Prof. Fabian, nutzen sie die Kooperation zwischen Ihrem Amt und der SBAL, um die Bildungsmöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten zu verbessern.

Das Projekt FIM, welches wir zu späterem Zeitpunkt heute noch einmal behandeln werden, hat bereits eines unserer Leipziger Probleme deutlich gezeigt:
„Zu viele Köche verderben den Brei.“

Der größere Teil der Teilnehmer, die die Maßnahme FIM nicht zu Ende bringen konnten, wurden durch das Jobcenter in andere Maßnahmen, wie z.B. Integrationskurse verwiesen und waren verpflichtet an diesen teilzunehmen.

Bei uns in Leipzig laufen oftmals zu viele Dinge parallel und behindern sich dadurch gegenseitig. Besonders im Bereich Bildung, wird nur selten aufeinander aufgebaut.
Jugendliche die die Schule verlassen und nicht von selbst in Arbeit oder Ausbildung kommen, landen beim Jobcenter oder je nach Aufenthaltsstatus bei der Agentur für Arbeit. Hier wird nur selten Kontakt zu Lehrern und Schulen aufgenommen, meist machen sich die Sachbearbeiter ihr Bild vom Jugendlichen allein und das führt nicht immer zum geeigneten Ziel. Eine engere Zusammenarbeit, zwischen LehrerInnen, BetreuerInnen, Jobcenter und allen anderen Akteuren, die mit den Betroffenen in der Vergangenheit an seinen schulischen und sprachlichen Kenntnissen gearbeitet haben, wäre hilfreich und würde verhindern, dass 19jährige nach einem Jahr intensivem Deutsch-lernen erneut frustriert in einem Sprachkurs landen anstatt erfolgreich für eine Beruf qualifiziert zu werden.

Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit aller Bildungsakteure in Leipzig und keine unzähligen Projekte, die immer wieder nur mit kleine Gruppen arbeiten und die gesamte Bildungs- und Integrationsaufgabe damit nur noch intransparenter und ungerechter machen.

Neben den bereits erwähnten schulischen Vorkenntnissen bringen viele junge Menschen auch berufliches Potential mit, dieses ist bisher weitgehend ungenutzt geblieben. An kaum einer Stelle interessiert man sich für die berufliche Vergangenheit der jungen Menschen, diese werden zwar in Formularen erfasst aber nur in ganz seltenen Fällen wirklich ausgebaut. Anstatt Zeit und Mühen zu investieren, die jungen Menschen in starre vorgefertigte Konzepte zur beruflichen Qualifizierung zu zwängen und daneben alles nur auf den Spracherwerb zu fokussieren, sollte viel Wert darauf gelegt werden geeignete berufliche Qualifikationen und Erfahrungen für den Arbeitsmarkt nutzbar zu machen. Hier könnten IHK, Schulen und Jobcenter ebenfalls stärker und besser zusammenarbeiten. Auch die Zusammenarbeit mit den Unternehmen sollte noch stärker ausgebaut werden. Anstatt durch sensationssuchende Presseberichterstattungen Unternehmern Angst davor zu machen jugendliche Migranten einzustellen. Sollten wir unsere Leipziger Unternehmen stärken und stützen und ihnen Mut machen Menschen mit ausländischem Bildungshintergrund auszubilden, besonders jene, die keinen deutschen Schulabschluss haben.

Wir bezeichnen Integration als Querschnittsaufgabe aber wir behandeln sie selten so.
In der Beschreibung zur Bildungspolitischen Stunde heute hieß es: „Bildung ermöglicht Teilhabe in unterschiedlichen Lebenslagen und -bereiche“ Das ist richtig aber sowohl Bildung als auch Integration leben vom Gegenseitigen, vom Geben und Nehmen. Um eine erfolgreichen Multikulturelle Stadtgesellschaft zu fördern, müssen wir den unterschiedlichen Lebenslagen und -bereichen auch einen Platz in der Bildung einräumen.
Wir dürfen Jugendliche nicht in starre Systeme pressen, sondern müssen sehen, wie wir Menschen und Ausbildung bestmöglich aneinander anpassen können. Wir müssen die Potenziale die die jungen Menschen mitbringen nutzen und fördern und sie gleichzeitig an den Punkten schulen und fördern an denen sie noch Schwierigkeiten haben.
Migranten sind keine homogene Gruppe! Jeder bringt andere Voraussetzungen und Potenziale mit, die es gilt zu fördern und nicht zu ersticken.

Um das erfolgreich umsetzen zu können dürfen wir Migration und Vielfalt nicht mehr von außen bearbeiten. Vielfalt muss in allen Bereichen unserer Gesellschaft präsent sein. Wir dürfen Migration, Integration und Vielfalt nicht mehr als Herausforderung behandeln, sondern als Bereicherung.

Wir müssen als Stadt und Stadtverwaltung diese gesellschaftliche Bereicherung widerspiegeln und mit gutem Vorbild vorangehen, zum Beispiel bei der Auswahl von Auszubildenden – an dieser Stelle höre ich oft den Einwand, „Wir werben ja bereits für unsere Ausbildungsplätze, aber es bewerben sich kaum junge Migrantinnen und Migranten….“ Wenn das so ist, dann ist es längst an der Zeit herauszufinden woran das liegt, ich erinnere mich dass hierzu bereits einige gute Ansätze aus dem Migrantenbeirat kamen, bisher wurden diese nicht umgesetzt.

Wir brauchen nicht nur Konzepte und Projekte, die Bildung und Integration fördern, wir müssen sie auch selbst leben und darstellen: in den Schulen, Horten, Kitas, in den Behörden, …. Nicht nur durch hübsche Tafeln und Schilder am Eingang, sondern vor allem durch Diversität und Vielfalt im Personal.

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