Rede von Tim Elschner am 11. November 2010 anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar 2013) / Wanderausstellung "Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft - Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit" im Neuen Rathaus

- Es gilt das gesprochene Wort -


Liebe TeilnehmerInnen des Fachgespräches,

auch ich begrüße Sie ganz herzlich zum heutigen Fachgespräch der Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Homosexuelles Leben im Alter – Forderungen an Politik und Pflegekräfte“.

Der demografische Wandel – eine älter werdende Gesellschaft

Meine Damen und Herren, aufgrund demografischer Erhebungen wissen wir, der Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft steigt in Deutschland kontinuierlich. Die immer älter werdende Gesellschaft stellt nicht nur Gesetzgeber, Kommunen, Wohlfahrtseinrichtungen und Wirtschaft vor neue Aufgaben. Auch das Gesundheitswesen und die Altenhilfe müssen sich auf ansteigende Zahlen von pflegebedürftigen Menschen einrichten. Die Liberalisierung der Gesellschaft wird die Altenhilfe bzw. -pflege zudem verändern.

Kommunen sind deshalb dabei oder haben begonnen, strategische Konzepte und politisch abgestimmte Ziele zu entwickeln, zu der Frage, wie die Folgen des demografischen Wandels bearbeitet werden können. Wie kommunale Infrastruktur unter Berücksichtigung einer Ausgewogenheit des Generationenverhältnisses dem steigenden Anteil älterer Menschen künftig verstärkt Rechnung tragen kann.

Seniorenpolitische Leitlinien und der 3. Altenhilfeplan 2010 der Stadt Leipzig

Jüngst, im September 2010, hat die Ratsversammlung vor diesem Hintergrund den Oberbürgermeister unter Mithilfe des Seniorenbeirates beauftragt, seniorenpolitische Leitlinien zu erarbeiten und diese der Ratsversammlung noch im IV. Quartal 2010 vorzulegen. Diese sollen Bestandteil des 3. Altenhilfeplanes 2010 sein und die unterschiedlichen Situationen von Seniorinnen und Senioren in Leipzig widerspiegeln sowie Handlungskonsequenzen aufzeigen.

Aus Sicht der Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist es in diesem Zusammenhang nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich, wenn nicht bei den seniorenpolitischen Leitlinien, so doch im 3. Altenhilfeplan auf die Belange spezieller Zielgruppen, wie die älterer Menschen mit Migrationshintergrund, mit gleichgeschlechtlicher Orientierung, mit Behinderung und mit psychischer Erkrankung in besonderem Maße einzugehen. Denn gerade diese ältere Menschen sind auch heute noch besonders häufig von Diskriminierung betroffen. Dies beginnt bereits damit, dass ihre Bedürfnisse im Alter nur unzureichend berücksichtigt werden. Sie bedürfen deshalb gerade im Kontext von kommunaler Seniorenpolitik einer besonderen Betrachtung und gegebenenfalls besonderer einzelfallbezogener Unterstützungen. Auch vor dem Hintergrund, dass die Zahl derjenigen auch in Leipzig in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.

Zielsetzung des heutigen Fachgespräches

Mit dem Fachgespräch verfolgt die Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen deshalb heute das Ziel, insbesondere Kommunalpolitik, Stadtgesellschaft und die Altenhilfe bzw. -pflege für das Thema „Homosexualität im Alter“ zu sensibilisieren. Denn die Lebenssituation gleichgeschlechtlich liebender älterer Menschen ist in Leipzig anders als in anderen Großstädten Deutschlands noch weitgehend ohne Beachtung. Es soll deshalb in unserem heutigen Fachgespräch darum gehen, gleichgeschlechtlich Liebende in ihrer bisherigen Lebenswelt individuell wahrzunehmen und ihnen eine Pflege ohne tatsächliche Diskriminierung und/oder einer Angst vor Repressalien bereitstellen zu können.

Meine Damen und Herren, Ende 2009 hatte Leipzig 518.862 Einwohner, davon 117.323 über 65 Jahren. Alle seriösen Untersuchungen gehen von einem Bevölkerungsteil Homosexueller zwischen 5 und 10 % aus. Diese Schätzung ist allerdings nicht wissenschaftlich gesichert, da die sexuelle Orientierung nicht ermittelt werden kann. In Ballungsgebieten dürfte dieser Anteil eher höher liegen, da viele Betroffene im Laufe ihres Lebens in die Großstadt ziehen, um die dort bestehende Infrastruktur zu nutzen.

Dies bedeutet, dass in Leipzig zwischen 5.800 und 11.700 Homosexuelle im Alter ab 65 Jahren leben. Bislang ist diese Bevölkerungsgruppe allerdings nur wenig in Erscheinung getreten. Die Gründe sind vielfältig. Bezug nehmen wird auf diese Gründe sicherlich Herr Heiko Gerlach in seinem Vortrag. Mir bleibt an dieser Stelle vorerst festzustellen, dass die heute über 65jährigen eine Zeit der massiven gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Diskriminierungen erlebt haben. So kann es nicht verwundern, dass ältere, alte und hochbetagte Lesben und Schwule in der Öffentlichkeit kaum sichtbar sind.

Sie mussten zu lange die eigene Persönlichkeit verleugnen oder ein Scheinleben bzw. soziales Doppelleben führen. Viele tun es auch heute noch, da Homosexualität im Alter auch und insbesondere unter der älteren Bevölkerung nach wie vor stark stigmatisiert ist und viele Betroffene ihr Leben lang soziale Arrangements zur Verheimlichung ihrer Homosexualität getroffen haben.

Warum soll bzw. muss sich die Altenhilfe gegenüber gleich-geschlechtlich liebenden Menschen und ihrer Lebenssituation öffnen?

Liebe Teilnehmerinnen des Fachgesprächs, um weiter zu begründen, warum sich die Altenhilfe gegenüber gleichgeschlechtlich liebenden Menschen und ihrer Lebenssituation öffnen soll bzw. muss, möchte ich einerseits auf das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 1. Juli 2008 hinweisen, mit welchem die grundsätzlichen Anforderungen an die Ausrichtung der ambulanten und (teil-)stationären Pflege deutlich erweitert wurden.

So steht in § 1 Abs. 4 a SBG XI:

„In der Pflegeversicherung sollen geschlechterspezifische Unterschiede bezüglich der Pflegebedürftigkeit von Männer und Frauen und ihrer Bedarfe an Leistungen berücksichtigt und den Bedürfnissen nach einer kultursensiblen Pflege nach Möglichkeit Rechnung getragen werden.“

Dabei heißt „soll“ wo immer es möglich ist „muss“.

Der Bundesgesetzgeber hat außerdem unter der Überschrift „Selbstbestimmung“ (§ 2 SBG XI) besonders hervorgehoben, dass die „Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege (...) nach Möglichkeit Berücksichtigung (...) finden.

Zwar begründet die Regelung keinen Anspruch auf gleichgeschlechtliche Pflege. Pflegeeinrichtungen sind jedoch dazu verpflichtet, wo immer möglich, dem Wunsch von
Pflegebedürftigen danach Rechnung zu tragen.

Zum anderen möchte ich auf Artikel 3 der „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ verweisen. Die Charta geht zurück auf die Arbeiten des „Runden Tisches Pflege“. Dieser wurde von 2003 - 2005 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung einberufen, um die Lebenssituation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in Deutschland zu verbessern.

In Artikel 3, der die „Privatheit“ regelt, lesen wir unter der Überschrift „Respektierung von Sexualität, geschlechtlicher Orientierung und Lebensweise“:

„Grundsätzlich hat jeder Mensch – unabhängig vom Alter und unabhängig vom Ausmaß des Pflege- und Hilfebedarfs – das Recht auf Sexualität, auf Respektierung seiner geschlechtlichen Identität und seiner Lebensweise. Niemand darf Sie aufgrund Ihrer geschlechtlichen Orientierung diskriminieren. (...) “

Wie äußern sich aber eigentlich Lesben und Schwule zum Lebensabschnitt Alter?

Meine Damen und Herren, Berichte, Erfahrungen oder Studien können die Frage beantworten.

Bereits 2004 wurde von der Stadt München eine Publikation veröffentlicht, die explizit die Lebenssituationen von Lesben und Schwulen zum Gegenstand hat. Die von der Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebens-weisen der Stadt München durchgeführte Befragung der Münchner Lesben und Schwulen ist deshalb so bemerkenswert, weil damit wohl erstmalig europaweit durch eine Stadtverwaltung die Bevölkerungsgruppe der Lesben und Schwulen nach ihren Lebenssituationen, Wünschen, Bedürfnissen und Problemen befragt worden ist.

Meines Erachtens dürften sich Lebenssituationen, Wünsche, Bedürfnisse und Probleme von Schwulen und Lesben auch heute noch weitgehend so darstellen.

Die Befragung hat ergeben, dass der Lebensabschnitt Alter für Lesben und Schwule ein offensichtlich sehr bedeutsames Thema ist. Fast 90 % aller Befragten haben angegeben, sich bereits mit diesem Thema beschäftigt zu haben. Dieses Ergebnis bleibt in allen Altersgruppen ähnlich, nur bei den unter 25-jährigen weicht es etwas nach unten ab, wobei auch hier ein Wert von ca. 70 % Zustimmung erreicht wurde.

Die Befragung hat außerdem ergeben, sollte aufgrund altersbedingter gesundheitlicher Einschränkungen eine Hilfestellung in der häuslichen Versorgung notwendig werden, dass Lesben und Schwule klare Vorstellungen haben: Im Bereich der privaten Unterstützung werden die Hilfestellungen durch Freundinnen und Freunde deutlich bevorzugt (über 80 %), familiäre Hilfen fallen demgegenüber mit etwas über 50 % deutlich auf den zweiten Platz zurück. Grund dürfte sein, dass den Mitgliedern des Freundeskreises mehr Kompetenz zugewiesen wird, über Lebensstil, Wünsche und Bedürfnisse Bescheid zu wissen.

Die Wahrnehmung des Angebotes eines ambulanten Dienstes zur hauswirtschaftlichen und/oder pflegerischen Versorgung ist für Lesben und Schwule grundsätzlich gut vorstellbar (Zustimmungsquote von 80 %). Dabei erhalten mit 84 % diejenigen ambulanten Dienste die meiste Zustimmung, die ihre Angebote auch für Lesben und Schwule ausgerichtet haben und damit erkennbar für jedermann machen, dass sie hier kompetent und nicht ausgrenzend sind, ohne dass sie ausschließlich nur von und für Lesben und Schwule arbeiten.

Die Befragung macht auch deutlich, dass es Lesben und Schwulen ein großes Anliegen ist, auch bei gesundheitlicher Einschränkung im Alter weiterhin einen eigenen Lebensstil verwirklichen zu können, ohne die Befürchtung haben zu müssen, von den Hilfebringern benachteiligt oder ausgegrenzt zu werden.

Die von der Stadt München 2004 veröffentlichte Befragung hat außerdem ergeben, dass Dienstleistungen von Einrichtungen der Altenhilfe von den Lesben und Schwulen so gut wie gar nicht angenommen werden. Deshalb wurde vor sechs Jahren gefragt, welche spezifischen Ansprüche die Befragten an die Angebote der entsprechenden Hilfeeinrichtungen richten.

Mit ca. 95 % erheben die Betroffenen den Anspruch, bei der Nutzung der Hilfeeinrichtungen offen als Lesben bzw. Schwule auftreten zu können. 87 % halten es für wichtig, dass die dortigen Mitarbeiterinnen in Bezug auf Homosexualität geschult sind. Und mehr als 75 % aller Befragten geben an, dass die Einrichtungen offensiv mit ihrem Angebot für Lesben und Schwule umgehen und entsprechend bewerben sollen.

Einschätzungen der Befragten zu bestehenden Altenhilfeeinrichtungen gab 2004 der Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen der Stadt München Anlass zu Sorge:
Deutlich mehr als 90 % der Befragten waren der Meinung, dass die derzeitigen Altenhilfeeinrichtungen nicht kompetent mit den Bedürfnissen Homosexueller umgehen. Etwa 96 % gehen davon aus, dass die bestehenden Einrichtungen ihre Angebote nicht auch auf Lesben und Schwule ausgerichtet haben. Deutlich mehr als 70 % der Befragten gehen davon aus, dass sie von Personal oder Mitbewohnern nicht diskriminierungsfrei behandelt würden, sollten sie das Angebot einer Altenhilfeeinrichtung wahrnehmen.

Im Fragebogen wurde auch gefragt, ob man sich vorstellen könne, in einer stationären Einrichtung ebenso frei vom gleichgeschlechtlichen Freundeskreis erzählen zu können, wie dies etwa heterosexuelle Mitbewohner von ihrer Familie tun. Hier befürchten 80 % der Befragten, dass dies nicht möglich ist.

Münchens Lesben und Schwule wurden auch befragt, welche Wohnformen im Alter für sie vorstellbar wären. Spitzenreiter bei den privat organisierten Wohnformen ist die sogenannte Hausgemeinschaft, bei der FreundInnen im gleichen Haus, aber jeweils in eigenen Wohnungen leben und sich im Bedarfsfall gegenseitig unterstützen.

Die Betroffenen wurden auch gebeten, ihre Einschätzungen zu klassischen Formen des Altenwohnens abzugeben: An erster Stelle wäre ein Alten(pflege)heim mit gemischter Bewohnerschaft vorstellbar, wobei das Angebot ausdrücklich auch auf Lesben und Schwule ausgerichtet sein muss: für deutlich mehr als ¾ der Betroffenen wäre dies vorstellbar. Auf Platz 2  folgt erst das kommerzielle schwullesbische Wohnprojekt. Dies zeigt, dass separierende Tendenzen bei Lesben und Schwulen nicht überwiegen: eine spezielle Abteilung für Lesben und Schwule in einem Altenheim erhält über 70 % Ablehnung, etwas besser vorstellbar scheint noch ein Alten(pflege)heim für Lesben und Schwule zu sein. Hier beträgt die Ablehnung aber auch immer noch über 55 %.

Sogenannte „normale“ Altenwohn- oder Altenpflegeheime, in denen Homosexualität kein Thema ist, werden mit recht deutlichen Werten abgelehnt.

Die Befragung macht eindrucksvoll deutlich, warum sich die Altenhilfe gegenüber gleichgeschlechtlich liebenden Menschen und ihrer Lebenssituation öffnen muss.

„Homosexualität im Alter“ - (k)ein Thema in der Altenpflege in Leipzig?

Vor diesem Hintergrund wollen wir deshalb heute hören, mit Ihnen erörtern und diskutieren, wie sich Lebenssituation und Lebenskultur von Lesben und Schwulen im Allgemeinen und insbesondere im Alter, dass heißt auch in den Altenhilfeeinrichtungen oder im ambulanten Pflegebereich in Leipzig derzeit darstellt.

Ist Homosexualität (k)ein Thema in der Altenpflege? Ist die gleich-geschlechtliche Lebensform Pflegebedürftiger noch immer ein Tabuthema in der Altenpflege bzw. in Altenpflegeschulen?

Was kann seitens der lokalen Träger in ambulanten/stationären Pflegeeinrichtungen getan werden, um der Lebenssituation älterer lesbischer Frauen und schwuler Männer gerecht zu werden? Wie können vielleicht bestehende Hemmschwellen auf Seiten der Altenhilfeeinrichtungen und der betroffenen Pflegebedürftigen abgebaut werden?

Oder aber: Was wird bereits in Leipzig schon heute seitens der lokalen Träger in ambulanten/stationären Pflegeeinrichtungen getan, um ihrer besonderen Lebenssituation gerecht zu werden?

Welchen Raum nimmt im Pflegealltag oder im Lehrplan der Altenpflege-schulen das in diesem Zusammenhang wichtige Thema der „kultursensiblen Pflege“ ein? Werden Pflegende, die bereits in der Altenpflege tätig sind, in „kultursensibler Pflege“ weitergebildet?

Wie gehen Pflegefachkräfte mit Situationen um, wenn sie mit Menschen konfrontiert werden, deren Bedürfnisse, Werte und Normen unterschiedlich zu den eigenen sind?

Inwieweit werden ganz grundsätzlich andere Lebenskulturen in der Pflege oder in Pflegeeinrichtungen berücksichtigt? Leisten Pflegende besonders für Pflegebedürftige mit einer anderen (Sub-)kultur, Religion oder Herkunft Vermittlungsarbeit?

Wie kann etwa durch Biografiearbeit seitens der Pflegenden Vertrauen zu Pflegebedürftigen geschaffen werden?

Sehr verehrte Teilnehmende, uns allen wünsche ich, dass wir durch das heutige Fachgespräch einen Erkenntnisgewinn erhalten, und von dem Fachgespräch des weiteren ein Impuls ausgehen möge, die Herausforderungen, die sich bei dem Thema stellen, anzunehmen.

Vielen Dank!

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