Veranstaltungsbericht: Zwischennutzung und Stadtentwicklung - vom Erfolgsmodell zum Auslaufmodell?
Bericht zur Veranstaltung vom 9. April 2014, 18 Uhr, Angerbrücke Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Leipzig Podium und zahlreiche Gäste, vor allem von Zwischennutzer-Initiativen, gingen der aktuellen Frage nach: Was ist die Zukunft des kreativen Umgangs mit Brachflächen und vom Verfall bedrohten Häusern in Leipzig? Einerseits entsteht als Effekt aus ZN eine deutliche positive Wirkung für die Stadtentwicklung, für die magnetische Anziehungskraft Leipzigs, gerade auf junge Menschen die besonders gerne herziehen. Andererseits werden die Flächen und verwendbaren Häuser weniger - noch gibt es sie. Zwischennutzer wurden am Abend für ihre Initiativen gewürdigt. Und es wird weitere Veranstaltungen brauchen und geben, um die Frage nach der Zukunft von ZN zu beantworten.
Moderator Stadtrat Ingo Sasama bezog sich eingangs darauf, dass offene unfertige Räume auf den ersten Blick städtebauliche Missstände darstellen – auf der anderen Seite aber eine Vielzahl an Möglichkeiten bieten. Dazu tragen eine Vielzahl von Initiativen auf unterschiedliche und oft stadtteilprägende Art und Weise bei. Diese in einer öffentlichen Diskussion aufzuwerten und so dieses Nutzersegment zu stärken, sei das Ziel dieser Auftaktveranstaltung.
Prof. Dieter Rink (Stadtsoziologe, Umweltforschungszentrum Leipzig) schilderte zu Beginn in einem Einführungsvortrag, das sich der Umfang der Brachflächen (BF) in der Stadt Leipzig von ca. 900 ha Ende der 90er Jahre auf mittlerweile ca. 560 ha verringert hat. Die letzte Erfassung wurde 2012 vorgenommen, dabei wurden noch etwa 800 BF gezählt, die größte innerstädtische BF ist der Leuschnerplatz mit 5ha, damit eine der größten innerstädtischen BF Deutschlands. Es trat mit der Zeit eine gewisse Gewöhnung an solche BF innerhalb der Bevölkerung ein. Die Verringerung der BF ist ein deutlicher Indikator dafür, dass der Prozess des Stadtumbaus in Leipzig erfolgreich verlaufen ist. Leipzig sei durch das Konzept der Zwischennutzung bekannt geworden, hier wurde am meisten experimentiert und es gab zahlreiche Nutzungsvereinbarungen. Damit stellt die Stadt europaweit eines der besten Beispiele dar, wie innovativ man mit Freiflächen umgegangen ist und den Stadtumbau gestaltet hat - Leipzig war damit ein Vorbild für viele europäische Städte.
Zwischennutzungen (ZN) haben viele junge Leute in die Stadt gezogen (Nutzer, Bekannte etc.), ZN war preiswert und nützlich, sowohl für die Nutzer als auch für die Eigentümer. Allerdings war das Konzept "zu erfolgreich", d.h. der Zuzug steigt mittlerweile so stark und damit die Sanierungen (Bsp. Brunnenviertel, Plagwitzer Bahnhof) sodass Nutzungskonflikte entstehen. Leipzig ist nach München mittlerweile die am zweitstärksten wachsende Stadt in Deutschland. Die weitere Stadtentwicklung steht damit nun mittlerweile in Konkurrenz zum Erhalt von ZNen.
Die zwingenden Fragen sind daher: - Sind die Gestattungsvereinbarungen noch ein geeignetes Mittel und sollten sie weiter als Instrument der Stadtentwicklung genutzt werden? - Müssen ZN-Angebote ausweichen und ist dies möglich? - Müssen diese ZN-Konzepte weiterentwickelt werden? Dazu braucht es eine öffentliche Debatte, die mit der heutigen Veranstaltung einen Auftakt findet. Bei der Frage, wie mit ZN-Konzepten in Zukunft weiter verfahren werden soll, ist die Öffentlichkeit zu beteiligen!
Dorothee Dubrau (Bürgermeisterin für Stadtentwicklung und Bau) schilderte anschließend ihre reichhaltigen Erfahrungen aus Berlin, wo sie seit der Friedlichen Revolution in der Politik und der Stadtentwicklung tätig war. Damals kamen Hausbesetzer aus ganz Europa nach Berlin und mit ihnen ein großes Konfliktpotenzial. Es gab einige, die als Instandbesetzer Häuser besetzten und andere, die als Hausbesetzer diese regelrecht ausschlachteten und weiterzogen. Die Politik versuchte später zu beeinflussen, dass die Berliner Wohnungsgenossenschaften, den Instandbesetzern dauerhaftes Wohnen zu symbolischen Mieten ermöglicht und somit dieses "legalisiert". So konnte man diese alternative Szene halten. Die wesentliche Szene zog durch folgende Sanierungen immer weiter durch Berlin und wurde mehr und mehr an den Rand der Stadt gedrängt, nur noch einzelne innerstädtische Stellen existieren noch. Es gab daher immer einen "neidischen" Blick nach Leipzig wegen der Wächterhäuser und der Gestattungsverträge etc., vieles war in Berlin nach 10 Jahren schon nicht mehr möglich, weil auch der Flächenbedarf pro Person sehr stark wuchs. Der Norden und Osten von Leipzig hat ihrer Ansicht nach ein riesiges Potenzial mit Freiräumen , jedoch mittlerweile mehr in Richtung Instandsetzung statt Kauf. Das Thema ZN wird noch stärker ein Thema, auch wenn es sich nicht verhindern lassen wird, dass die ZN tatsächlich nur für einen begrenzten Zeitraum möglich sein wird.
Michael Berninger (Projektleiter Gartenprogramm Leipzig, Stiftung Bürger für Leipzig) stellte dann die Frage, wie man ZN verstetigen kann, da dies seiner Meinung nach die Kernfrage ist. Die Aufgaben im öffentlichen Raum ändern sich, so wusste man beispielsweise beim Entstehen der Gemeinschaftsgärten nicht, ob diese ins Bundeskleingartengesetz einzuordnen sind. Die Frage, die sich die Stadt Leipzig und das Liegenschaftsamt stellen muss ist, was besser und wichtiger ist, Bodenwerte oder Gesellschaftswerte zu erzielen. Beispielsweise ist der Offene Garten Annalinde mittlerweile als soziokulturelles Zentrum im Grünen zu begreifen, was die Stadt viel günstiger und billiger kommt als beispielsweise die Schaubühne Lindenfels und andere. Es muss ein Umdenkprozess angestoßen werden, mit den Fragestellungen
"Wozu brauchen wir einen Park? Kann man dort vielleicht zukünftig wieder Kartoffeln anpflanzen? Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion, welche Mischnutzung zukünftig gewollt ist. Leipzig hat immer gezeigt, dass die Stadt mit neuen Wegen erfolgreich war. Ziel muss sein, die "grünen Stolpersteine" zu erhalten. Man muss dabei mit der Nutzung Druck ausüben und Tatsachen schaffen statt lange auf ausstehende Behördenentscheidungen zu warten. "Gärtner sind im Grunde alles ganz brave Bürger."
Dorothee Dubrau ergänzt, dass man Zwischennutzungen nicht planen kann und Behörden damit nicht beauftragt werden können. Sie können aber durchaus mal wegschauen, damit ein Pflänzchen wachsen kann und damit auch die Phantasie. An der Westseite des Hauptbahnhofes beispielsweise rechnet sie damit, dass die Flächen noch die nächsten 10 Jahre leer stehen werden und auch einige Flächen der Stadtbau AG noch 3-5 Jahre. Ihrer Meinung nach sollte eine gewisse Anzahl öffentlicher und halböffentlicher Flächen den Bürgern an die Hand gegeben werden, aber verbunden mit Verantwortung.
Tim Tröger (Haushalten e.V., Ausbau- und Wächterhäuser) gibt einen Einblick in das Konzept der Wächterhäuser und schildert, dass kein Wächterhaus dem anderen gleicht. Zunächst wurde ihrem Konzept hauptsächlich mit Ablehnung und großer Skepsis begegnet, mittlerweile kommen die Eigentümer auf den Verein zu, die Kommunikation hat sich somit umgekehrt. Eigentümer sehen das Konzept mittlerweile als sinnvolle Überbrückungszeit bis zur Sanierung an.
Frau Dr. Ginzel (Abteilungsleiterin Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung) schildert dass das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW) für die Gestattungsvereinbarungen (GV) zuständig sei und bislang keine solchen GV vorfristig gekündigt wurden. Momentan existieren 276 Gestattungsvereinbarungen. Man befinde sich nunmehr in einer Phase der Neujustierung, der Prozess für ein wohnungspolitisches Konzept ist angelaufen. Dabei ist deutlich, dass Interessenkonflikte bestehen und Diskussionen angestoßen werden müssen. Die Verwaltung kann aus ihrer Sicht einiges tun, auch Tipps geben. Es bestehen mittlerweile sehr gute Kooperationsbeziehungen mit Vereinen und Initiativen und es ist ein Bemühen da, um gemeinsame Lösungen zu finden.
Michael Berninger meint, dass die Vernetzung kein Fehlthema sei, aber die Szene ist doch recht klein und hat zu wenige aktive Nutzer, daher besteht kein großer Nutzerdruck. Es besteht wie bei so vielen Projekten das "Problem des Anfangens". Aber man habe selbst kein Vermarktungsproblem. Dabei verweist er auf den großen Aufwand, der seit drei Jahren im Rahmend es Leipziger Gartenprogramms betrieben wird. Er weist auch noch mal auf den großen Unterschied zwischen Brachen und Häusern hin. Freiflächeninteressenten suchen nach seiner Ansicht eher nach Großflächen, statt kleinen Baulücken.
In der anschließenden Diskussion wurde das Städtische Brachflächenkataster angesprochen. Prinzipiell müsse man in drei Kategorien unterscheiden, Häuser, Brachflächen und auch Gewerbegebäude.
Roman Grabolle von "Stadt für Alle" meinte, dass statt der öffentlich diskutierten 35.000 leeren Wohnungen nur unter 25.000 Wohnungen frei stünden und davon 10.000 umzugsbedingt. Seiner Erfahrung nach verkaufte die LWB jahrelang ihre Häuser unter Wert, nunmehr die Grundstücke bei Auktionen.
Ein Vertreter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer (ASG) schildert, dass das ASG viele Anfragen potenzieller Gartennutzer über die eingerichtete Website erhält. 75 Prozent der städtischen Brachflächen sind privat, wobei dort auch LWB etc. dazu zählt.
Dorothee Dubrau meint, dass es eben politischer Auftrag der 90er Jahre war, die LWB zu erhalten und zu entschulden, dies ging nur über Verkaufe. Ebenso steht es bis jetzt um das Liegenschaftsamt, um den städtischen Haushalt zu entlasten. Erst vor ein paar Wochen wurde das erste Mal das Thema der Flächenbevorratung im Liegenschaftsamt angesprochen, nachdem man nun festgestellt hat, dass viele Brachflächen, die man nun dringend braucht und auf deren Kauf man aus haushaltärischen Gründen verzichtet hat, in privater Hand sind.
Tim Tröger meint, dass sich der Begriff "Zwischennutzung" schon sehr lange hält, also seit etwa 10-12 Jahren, und es besteht die Frage, wie lange eine ZN ZN sein muss, um mehr zu werden. Die Stadt wird heute anders genutzt als noch vor 25 Jahren. Der Leipziger Sonderweg, der so in Chemnitz und Magdeburg nicht funktioniert, müsse erhalten und in die nächste Generation getragen werden. Wir müssen uns für das Erhalten einer durchmischten Stadt einsetzen, die Entmischung lässt sich vielleicht nicht verhindern, man muss dies aber bremsen.
Herr Prof. Rink stellt noch die Frage, wie man mit den Akteuren, die bei der Reurbanisierung so hilfreich waren, zukünftig umgehen soll im Zusammenhang mit der Flächenbevorratung. Die Diskussion darüber hat hiermit begonnen und muss dringend fortgesetzt werden.
Dies plant die Fraktion nun in Fortsetzung dieser Veranstaltung. Wir werden uns dazu in den nächsten Monaten um ein Fachgespräch mit allen Akteuren, Vereinen und Initiativen und beteiligten Ämtern und Dezernaten bemühen, um den nächsten Schritt im Prozess der Zukunft der Stadtentwicklung und der Nutzung und ggf. Verstetigung von Zwischennutzungskonzepten zu gehen.